Der Schatz in der Wolfsschlucht

In der Wolfsschlucht, in jenem Teil, den die Leute „Kemmat“ nennen, soll ein geheimnisvoller Schatz verborgen sein und darauf warten, von einem rechten Sonntagskind gehoben zu werden. Eines Tages ging ein junger Zimmermannsgeselle von seiner Arbeit nach Hause. Die Hitze des Tages und der lange steinige Weg hatten ihn müde gemacht, so dass er unter den dichten Bäumen in der Kühle der Schlucht ein bisschen Erholung suchte. Er schlief aber bald ein, und als er erwachte, war es bereits dunkel geworden.

Neben ihm gewahrte er in einem seltsamen silbrigen Licht ein schönes Mädchen, das ihn freundlich anblickte. Er konnte sich kaum von der Stelle bewegen, so seltsam war ihm zumute. Das schöne Mädchen, das er vorher noch nie gesehen hatte, fing an zu sprechen: „Du kannst mich erlösen! Ich komme dreimal in Gestalt einer Schlage zu dir. Schlag mir dreimal mit dieser Rute, und fürchte dich nicht, dann bin ich erlöst! Als Dank gehört dir der Schatz, den du hier siehst!“ Wirklich gewahrte der Bursche in einer Felsennische eine Truhe, voll mit kostbaren Perlen, mit Gold und Edelsteinen.

Er glaubte zu träumen, aber die Rute in seiner Hand rief ihn zurück in die Wirklichkeit.

Und gleich darauf kam eine Schlange aus der Schlucht gekrochen. Sie zischte und züngelte, aber als er sie mit der Rute leicht über dem Kopf schlug, verschwand sie wieder. Eine Weile musste der Bursch warten, dann erschien die Schlange wieder. Diesmal war sie viel größer. Sie zuckte und züngelte, sie wand sich an seinen Beinen empor, dass dem Gesellen angst und bang wurde. Mit letzter Kraft schlug er ihr die Rute über den Kopf, da verschwand das Untier.

Erleichtert wollte der Bursche sich abwenden, da erschien die Schlange zum dritten Mal. Diesmal war sie so groß wie ein Lindwurm und schien Feuer zu speien. Da warf der Bursch die Rute in den schäumenden Bach und lief weg, so schnell ihn seine Beine trugen.

Als er den Ausgang der Schlucht erreichte, wagte er erst zu verschnaufen. Er hörte eine klagende Stimme, die rief: “Wenn die Fichte, unter der du stehst, Früchte trägt, wenn aus ihren Samen ein neuer Baum wächst, wenn aus seinem Holz eine Wiege gemacht wird, und wenn in dieser Wiege ein Sonntagskind liegt, das sich nicht fürchtet, dann erst kann ich wieder erlöst werden!“

Seither mied der Bursche den Weg durch die Wolfsschlucht, und der Schatz, den er gesehen hatte, blieb bis heute verschwunden. Und kein Mensch kann mehr sagen, welche Fichte es ist, aus der die Wiege gemacht werden soll.


Verfasser: unbekannt